Empathisch, Sensibilisiert, Person-Zentriert: Das sind die Ziele des Expertenstandards zur Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz

Ob im Krankenhaus oder der Demenz-WG – es hilft allen Beteiligten in Pflege-Settings, Betreuung, Unterstützung und Pflege person-zentriert und in multiprofessionellen Teams zu gestalten, Angehörige mit einzubeziehen und mit Menschen mit Demenz bewusst in Beziehung zu gehen. Dies betonten Expert:innen auf dem jüngsten BAGFW-Fachtag zum Expertenstandard mit über 150 Teilnehmer:innen vor Ort und digital.

Am 14. November 2023 tauschten sich Experti:innen und Praktiker:innen auf der BAGFW-Fachtagung „Umsetzung des Expertenstandards "Beziehungsgestaltung in der Pflege bei Menschen mit Demenz"" vor Ort in Berlin und digital aus dem gesamten Bundesgebiet rege aus. Vor vier Jahren entwickelte das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) unter der Leitung von Prof. Dr. Andreas Büscher und Prof. Dr. Martina Roes vom Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) den ersten Expertenstandard für die Pflege von Menschen mit Demenz, der sich (wie alle Expertenstandards) an professionell Pflegende richtet und die Lebensqualität von Menschen mit Demenz in den Mittelpunkt stellt. Eine Fachveranstaltung zur Umsetzung und Implementierung des Standards in verschiedenen Pflegesettings gehört zu den Maßnahmen des dritten Handlungsfeldes – „Medizinische und pflegerische Versorgung von Menschen mit Demenz weiterentwickeln“ - in der Nationalen Demenzstrategie.

Im Programm zum von der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) und dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) organisierten Fachtag fanden sich dementsprechend Praxiseinblicke in vier Versorgungsbereiche: Wohngemeinschaft, Tagespflege, Pflegeheim sowie Krankenhaus.

Die BAGFW wird eine umfangreiche Dokumentation mit einem Veranstaltungsvideo und den Präsentationen aller Redner:innen online stellen. Auch auf den Seiten des Pflegenetzwerks Deutschland wird Material zu Verfügung gestellt.

Zum Auftakt dankte Maria Becker, Leiterin der Unterabteilung 42 – Pflegestärkung, BMG, Prof. Büscher und Prof. Roes für die Entwicklung des Standards sowie der BAGFW für die Organisation des Fachtags, und hob die wichtige Aufgabe hervor, die professionell Pflegenden in der Pflege von Menschen mit Demenz laut dem Expertenstandard zukommt: im Umgang mit Menschen mit Demenz jeweils spezifische und passgenaue Pflege-Maßnahmen zu ergreifen, zu koordinieren und gleichzeitig in eine Beziehung mit der individuellen Person zu treten. Insbesondere vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels müsse die Pflegeausbildung attraktiver gemacht, sowie Fachkräfte angeworben werden.

Prof. Dr. Martina Roes, wissenschaftliche Leiterin der DNQP Expertenarbeitsgruppe, fasste Hintergründe und Entstehungsgeschichte des Expertenstandards zusammen, um dann genauer auf Potenziale und Herausforderungen von Person-Zentrierung in der Umsetzung, konkret und im Einzelfall, einzugehen.

Was ist person-zentrierte Pflege?
Die person-zentrierte Pflege geht auf die Überlegungen des Psychologen Tom Kitwood zurück, die individuellen Bedürfnisse und Perspektiven einer Person in den Mittelpunkt der Pflege zu stellen. Person-zentrierte Pflege zielt darauf ab, eine auf die Einzigartigkeit jedes Menschen abgestimmte Pflege und Unterstützung zu gewährleisten. Der Erhalt und die Stärkung der Person ist ihr oberstes Ziel in der Betreuung von Menschen mit Demenz. Die daraus resultierende Grundhaltung gegenüber Menschen mit Demenz und die positive Beziehung mit der Person bilden die Basis.

Welches Verständnis – von der zu pflegenden Person als auch von der pflegenden Person über sich selbst – kommt in der Pflegesituation zum Tragen? Prof. Roes berichtete, Pflegende seien sich dessen nicht immer bewusst, der eigene Beratungsbedarf würde zum Teil nicht gesehen oder verneint. Auch auf infrastruktureller Ebene seien selten die Möglichkeiten zu Beratung gegeben. Insofern ist es ein Meilenstein, dass Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz mit der Etablierung des Expertenstandards erstmals Teil der Pflegewissenschaft geworden ist.

Im Zuge der Weiterentwicklung des Standards im nächsten Jahr sei eventuell zu berücksichtigen, wie sich die Gesellschaft verändert hat (z.B. Migrationsgeschichten und/oder LGBTQAI+) oder auch, wie pflegerisch auf Personen mit verschiedenen Demenzformen bzw. verschiedenen Stadien einer Demenz eingegangen werden müsste, so Roes

Demenz-Expertin Barbara Klee-Reiter nahm die Teilnehmenden im dritten Programmpunkt mit auf ein digitales Experiment: das von ihr entwickelte Demenz-Balance-Modell. Es zeigt so einfach wie eindrucksvoll, wie Demenz jede und jeden verändert und verunsichert, wie wichtig Beziehungen für Menschen mit Demenz sind, welche Kompensationsangebote ihnen darin für erlebte Verluste (kognitive Leistungsfähigkeit, Identität, Ressourcen) gemacht werden können und wie dies zu ihrem Wohlbefinden beitragen kann.

Nach einer kurzen Pause ging es in die konkrete Praxis. Zur "Umsetzung des Expertenstandards in der ambulanten und teilstationären pflegerischen Praxis" (Maßnahme 3.1.11) sprach zuerst Marie Luise Mangelsdorf über die Umsetzung in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz. Hier wurde der Standard nach dem vom DQNP vorgeschlagenen Phasenmodell implementiert: Vorbereitungsphase, Konkretisierung, Einführung und Audit. Dabei wurden die Angehörigen intensiv mit einbezogen. Mitarbeiter:innen bildeten sich während des gesamtem Prozesses fort, insbesondere zur person-zentrierten Pflege nach Kitwood und der damit zusammenhängenden Lebensweltorientierung. Um individuell auf die Bedürfnisse der Bewohner:innen eingehen zu können wurde ein Formblatt zur Dokumentation entwickelt, in dem spezifische Informationen zu jede:r Bewohner:in notiert werden. Ein Fazit der Einführung des Standards sei gewesen, dass bei allen Mitarbeiter:innen ein Perspektivwechsel von "Demenz als Problem in der Pflege" hin zu "Demenz als Lebenssituation von Menschen mit Demenz" spürbar war.      

Anschließend gewährte Ilse Hotz Einblicke in die Umsetzungsmöglichkeiten in Tagespflegeeinrichtungen. Bei der Einführung des Expertenstandards wurde ein multiprofessionelles Projektteam gebildet, da alle an der Pflege, Betreuung und Versorgung Beteiligten eine person-zentrierte Haltung verinnerlichen sollten. Während der Implementierung stellte die Corona-Pandemie eine große Herausforderung dar. Hier wurde die Angehörigenberatung verstärkt, da die Besucher:innenanzahl reduziert werden musste und es gleichzeitig in den häuslichen Settings vermehrt zu höheren Belastungen sowohl der Menschen mit Demenz als auch der pflegenden Angehörigen kam. Die Bilanz nach dem Audit 2023 fällt positiv aus: Die Gäste fühlen sich gehört, verstanden und eingebunden, "herausforderndes Verhalten" tritt wenig bis gar nicht auf.

Am Nachmittag zeigte Bernhard Langner, Altenpfleger, Qualitätsmanager und Referent für aktuelle pflegewissenschaftliche Erkenntnisse, wie die Implementierung des Expertenstandards in einem Pflegeheim gelingen kann (Maßnahme 3.2.6, "Umsetzung des Expertenstandards in der vollstationären pflegerischen Praxis"): Im ersten Schritt wurde im vorgestellten Pflegeheim eine Projektgruppe mit allen beteiligten Berufsgruppen gegründet – neben professionell Pflegenden schließt das auch Betreuungs- und Hauswirtschaftskräfte, den Transportdienst sowie die Geschäftsführung mit ein. In einer ersten Veranstaltung beantworteten alle Fragen zu ihrer Einstellung gegenüber Menschen mit Demenz und absolvierten einen Demenz-Parcours, der ein Gefühl dafür vermitteln soll, wie Menschen mit Demenz den Alltag erleben. Die Sensibilisierung und das neu gewonnene Wissen sollen Pflege und Begegnungen auf Augenhöhe, auch unter Einbeziehung der Angehörigen, möglich machen. Wichtig wäre laut Langner in Pflegeeinrichtungen, die für die Bewohner:innen ein vertrautes Umfeld bieten sollen, festes Personal, und damit feste Bezugspersonen. Er regte an, den Standard vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels dahingehend anzupassen sowie weniger theoretisch und konkreter zu formulieren. So könnten ihn auch diejenigen, die neben den Fachkräften an der Pflege beteiligt sind, in ihren Arbeitszusammenhängen anwenden.

Zur Umsetzung des Expertenstandards in der pflegerischen Praxis im Krankenhaus (Maßnahme 3.3.4) gewährte Sabine Herler-Kettrukat Einblicke in das AGAPLESION Markus Krankenhaus Frankfurt. Dort ist sie Teil des Kognitionsteams, das den Knotenpunkt eines multiprofessionellen Teams bildet und Menschen mit Demenz im Krankenhaus auf besondere Weise begleitet. Wichtig ist hier ihrer Erfahrung nach auch die Einbindung der Angehörigen. Der Anlass für stationäre Aufnahme sei bei vielen Personen ein anderer und Demenz allenfalls eine Nebendiagnose. Eine Demenz und die damit einhergehenden besonderen Bedürfnisse müssen im hektischen Klinikalltag trotzdem und im besten Fall von allen Mitarbeitenden beachtet werden – beispielsweise durch Begleitung zu Untersuchungen, möglichst kurze Wartzeiten und eine möglichst reizarme Umgebung. Im Markus Krankenhaus sind alle am Behandlungsprozess Beteiligten zu den Themen Demenz und Delir sensibilisiert und Patient:innen mit Demenz tragen ein rotes Armband, so dass ihnen die besondere Aufmerksamkeit zukommen kann, derer sie bedürfen.

Zum Abschluss blieb Zeit für vertiefende fachliche Fragen und einen Ausblick auf die Weiterentwicklung des Expertenstandards im nächsten Jahr: Dafür sollen neben den Expert:innen aus der Entwicklungsphase neue Personen, beispielsweise aus dem Bereich der Eingliederungshilfe, den Kreis erweitern. Ein erster Entwurf geht zu gegebenem Zeitpunkt online, mit der offenen Einladung zum Kommentieren. Es soll auch bei der Weiterentwicklung primär darum gehen, nicht technokratisch den Standard umzusetzen, sondern in der Praxis Verbesserungen der Lebensqualität zu erreichen, und zwar auf beiden Seiten der Pflege. Man werde die Bemühungen stärken, noch mehr Pflegende zur Teilnahme an entsprechenden Weiterbildungen zu überzeugen, denn Beziehungsgestaltung nach wie in dem Expertenstandard beschreiben, hat das Potenzial, sich auch für die Pflegenden motivierend und konkret entlastend auszuwirken.