Treten Anzeichen einer Demenz auf, sind schnelles Handeln und eine rechtzeitige Diagnose entscheidend für den weiteren Verlauf der Krankheit. Im Rahmen dieses diagnostischen Prozesses werden neben rein anatomischen Untersuchungen auch Testformate angewendet, die die aktive Mitarbeit der Betroffenen erfordern. Formate, die eine bestimmte sprachliche Kompetenz voraussetzen, sind dabei zentral. Aufgrund von strukturellen Mängeln in Bezug auf ihre kulturelle Sensibilität sind sie aber auch anfällig für verfälschte Diagnosen Versteht eine betroffene Person die Testfragen nicht, da die Muttersprache nicht -Deutsch ist, können die Ergebnisse verfälscht und eine adäquate Betreuung sogar behindert werden. Folglich ist der Einsatz kultursensibler Assessment-Instrumente im Demenzkontext von großer Bedeutung.
Die Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie e.V. (DGGPP) und die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) haben auf der Basis des aktuellen Forschungsstandes eine Empfehlung zum Einsatz mehrsprachiger, kultursensitiver Assessment-Instrumente zur Demenzdiagnostik entwickelt. Dabei haben sie die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. Selbsthilfe Demenz e. V. (DAlzG) und die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e. V. (DEGAM) einbezogen. Federführende Autorinnen waren Prof. Dr. Meryam Schouler-Ocak und Andrea Lohse. Die Empfehlung wird an relevante Akteure verbreitet.
Was sind Assessment-Instrumente zur Demenzdiagnostik und wie können sie kultursensibler gestaltet werden?
Assessment-Instrumente erfüllen im medizinischen Bereich die Funktion, Informationen strukturiert zu sammeln – so zum Beispiel in Form von Fragebogen, Skalen und Bewertungsmaßstäben. Sie bilden in der Pflege die Grundlage für die Diagnostik und Interventionsplanung von (potentiellen) Patient:innen. Bei einem Demenz-Verdacht dienen sie dazu, systematisch zu evaluieren, ob es sich wirklich um eine Demenz oder eventuell eine organische oder gar andere Ursache handeln könnte. Für Personen mit Migrationsgeschichte kann diese Form der Diagnose ein Hindernis darstellen, da kognitive Screeningverfahren oft bestimmte Sprachkenntnisse und einen bestimmten Kultur- und Bildungshintergrund der getesteten Personen voraussetzen. Hier soll der Einsatz mehrsprachiger, kultursensitiver Assessment-Instrumente die Diagnostik und Versorgung von Menschen mit Demenz, insbesondere solcher mit Migrationsgeschichte, verbessern. Dazu kann durchaus auch der Einsatz eines professionell qualifizierten Dolmetschers vonnöten sein.
Um die Screeningverfahren kultursensibler zu gestalten, sind neben einem leicht verständlichen Aufbau auch die schnelle Anwendbarkeit und kostenlose Verfügbarkeit zentral. Grundsätzlich gilt es, kognitive Screeningverfahren unabhängig von soziodemographischem, ethnischem und kulturellem Hintergrund einsetzbar zu machen. Der Einsatz von schriftlichen und computergestützten Testformaten sollte weitgehend gemieden werden, um auch Menschen mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten den Zugang zu erleichtern. Die Anwendung von geschlechts-, alters- und bildungsspezifischen Normwerten sowie die Beobachtung der Autonomie in Alltagsituationen können sich ebenfalls als nützlich für eine weitere Behandlung erweisen.
Ein Appell an Forschung und Praxis ist auch, muttersprachliche Kolleg:innen ebenso wie professionell qualifizierte Dolmetscher:innen ausreichend zu schulen und in Krankheitsbilder und Untersuchungssituation einzuweisen. Personal, das Demenzdiagnostiken durchführt, solle in seiner interkulturellen Kompetenz geschult werden.
Wie ist der aktuelle Forschungsstand zu mehrsprachiger, kultursensitiver Demenzdiagnostik?
Die Bemühungen um die Entwicklung kultursensibler Diagnoseinstrumente für die Demenzforschung sind in der Forschungsgemeinschaft längst angekommen. Als besonders vielversprechend erwies sich das in den Niederlanden entwickelte Cross-Cultural Dementia Screening (CCD), ein neuropsychologisches Screening-Instrument für Demenz bei älteren Personen mit Migrationsgeschichte insbesondere aus Nicht-EU-Ländern. In dieser Patient:innenngruppe können sich kognitive Tests, die auf den Sprachkenntnissen der jeweiligen Person aufbauen, aufgrund von Sprachbarrieren und geringem Bildungsstand und/oder Illiteralität als schwierig erweisen. Das CCD kann ohne Dolmetscher:in durchgeführt werden. Er enthält drei Untertests, die das Gedächtnis, die geistige Geschwindigkeit und die exekutiven Funktionen bewerten. Die Besonderheit in der Anwendung liegt darin, dass der CCD in großen Teilen auf non-verbalen Kommunikations- und Messmethoden basiert (visuelle Tests und solche, die Verhalten statt Sprache messen), welche in der Konsequenz zahlreiche Probleme kultur-insensibler Evaluierungen nachhaltig beheben. Analysen zeigten, dass der CCD mit 85% eine hohe diagnostische Treffsicherheit für Demenz und eine diagnostische Zuverlässigkeit von 89% hat (Sensitivität: 85 %; Spezifität: 89 %).
Andere etablierte Testverfahren konnten bei der Betrachtung ihrer Kultursensibilität nicht überzeugen und weisen einen hohen Optimierungsbedarf auf. So zeigte sich bei Überprüfungen, dass der Montreal-Cognitive-Assessement-Test (MoCa-Test) – ein Testformat, das zur Messung der kognitiven Leistung angewendet wird – durch kulturelle Unterschiede sowie Alter, Bildungsniveau und Geschlecht beeinflusst wurde. Auch der Mini Mental Status Test (MMST) – ein beliebter Test zur Erfassung kognitiver Leistung in Form eines Fragebogens – weist ähnliche strukturelle Probleme auf. Seine starke Abhängigkeit vom Gedächtnis und der Sprachfähigkeiten der jeweiligen Person sowie die Vernachlässigung einer Evaluation exekutiver Funktionen (bspw. die Steuerung des eigenen Verhaltens unter gewissen Umweltbedingungen) erschweren die Anwendung für Menschen mit Migrationsgeschichte. Zwar wurden beide Formate in der Vergangenheit kulturell angepasst, wie die Ausführung des MoCa-Tests in über 30 Sprachen eindrucksvoll verdeutlicht, doch weisen auch diese Übersetzungen Fehler oder Ungenauigkeit auf. Folglich werden Aufgaben für die Getesteten willkürlich verkompliziert und eine klare Diagnose erschwert. Zudem stellt der schriftliche Charakter beider Formate ein Hindernis für gering Literalisierte dar.
Wie geht es weiter?
Fest steht, dass sowohl ein großer Bedarf wie auch Optimierungspotential bei der kulturellen Öffnung von kognitiven Screeningverfahren der Demenzdiagnostik besteht. Doch beschränkt sich dieser Bedarf nicht nur auf die Diagnostik, sondern betrifft auch zahlreiche Aspekte der Lebensgestaltung nach einer Demenzdiagnose.
Die bundesweit angebotene mehrsprachige Broschüre "Seniorenkompass" bietet Informationen und hilfreiche Tipps zu Themen, die häufig mit dem Älterwerden verbunden sind. Der Kompass ist in den Sprachen Deutsch, Arabisch, Bosnisch, Kroatisch, Serbisch, Englisch, Griechisch, Russisch und Türkisch verfügbar.
Das Angebot "Demenz und Migration" der DAlzG in Kooperation mit dem Demenz Support Stuttgart ist eine zentrale Anlaufstelle für Informationsmaterial, Info-Karten zu demenzspezifischen Angeboten in der Region und weitere Beratungsmöglichkeiten rund um das Thema Demenz und Migration. Die Seite sowie die Materialen sind in den Sprachen Deutsch, Türkisch, Polnisch, Russisch, Englisch, Arabisch, Rumänisch und Vietnamesisch verfügbar.